Die aktivierte Zivilgesellschaft

Das bürgerschaftliche Engagement, das in Deutschland im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ entstanden ist, gilt als Sternstunde für die Zivilgesellschaft. Erste Studien dokumentieren die Bedeutung der Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der unmittelbaren Herausforderungen durch die Ankunft einer großen Zahl von Geflüchteten sowie die Zusammensetzung der Initiativen, die Motive der Beteiligten und das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur*innen.

Dieser starke zivilgesellschaftliche Aktivierungsschub bildet den Ausgangspunkt unseres Forschungsprojekts, den wir im Kontext von zwei zentralen Entwicklungen der Zivilgesellschaft in Deutschland analysieren: dem Wandel ihrer Strukturen und Handlungsformen sowie ihrer zunehmenden Politisierung.

Wir gehen davon aus, dass die langfristigen Wirkungen der Aktivierung der Zivilgesellschaft ganz entscheidend durch diese beiden veränderten Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Systematische empirische Studien hierzu fehlen jedoch noch. Das Verbundprojekt setzt an dieser Forschungslücke an und analysiert die nachhaltigen Wirkungen zivilgesellschaftlichen Engagements für das Sozialkapital im Kontext der hier skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen.

Was untersucht das Projekt?

Das Projekt interessiert sich für die assoziativen Grundlagen der Zivilgesellschaft, ihre Stärke, die Entstehungsmechanismen und ihre nachhaltige Wirkung auf Teilhabe und Gemeinwohl. Dazu werden exemplarisch anhand von sechs mittelgroßen Städten die Auswirkungen der Aktivierung der Zivilgesellschaft auf drei Ebenen untersucht:

  • Auf der Organisationsebene:

    Inwiefern verändert der Aktivierungsschub von 2015 langfristig die zivilgesellschaftliche Infrastruktur?
    Teilprojekt l: Verbindung

  • Auf der Ebene des individuellen Engagements:

    Inwiefern geht dieses in dauerhafte Formen der Beteiligung über?
    Teilprojekt II: Einbindung

  • Auf der Ebene der gesellschaftlichen Folgen:

    Inwiefern wird dadurch Gemeinwohl produziert?
    Teilprojekt III: Anbindung

Teilprojekt I

Verbindung – Die Meso-Ebene von Engagement (Koordination: WZB)

Teilprojekt I beschäftigt sich mit der Analyse der interorganisationalen Vernetzung innerhalb der Zivilgesellschaft (Initiativen, Vereine, Kirchen, Stiftungen, Verbände) sowie der Beziehungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu öffentlichen Einrichtungen.

Analysiert werden sollen dazu die Folgen des Aktivierungsschubs auf

  • die bestehenden Netzwerke (Vereine, Verbände, Kirchen, Stiftungen)
  • die Beziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Institutionen
  • die Entstehung von überlokalen und transnationalen Netzwerken

Es werden demnach horizontale Beziehungen zwischen Organisationen ebenso wie vertikale Verbindungen zur öffentlichen Verwaltung untersucht. Diese Netzwerke sollen anhand von Schlüsselmomenten (z.B. 2015, 2018, ggf. folgenden) auch in ihrer Dynamik betrachtet werden.

Dazu werden zunächst für den jeweiligen lokalen Kontext die zentralen Organisationen identifiziert sowie deren Entwicklung und Vernetzung erhoben. Hierzu stützen wir uns auf einen Methodenmix aus Dokumentenanalyse (online & offline) und Expert*innen-Interviews. Erfasst werden die wichtigsten Kooperationspartner*innen der jeweiligen Organisation, ihre Beziehung zu Behörden und staatlichen Institutionen aber auch, mit wem explizit nicht kooperiert wird.

Zweitens werden diese Interviews um Fragen nach der regionalen und transnationalen Dimension ihrer Netzwerke ergänzt, da die Mobilisierung von Menschen mit Migrationsgeschichte tendenziell zu einer Transnationalisierung lokaler Organisationen führt, die die lokale Beziehungsstruktur wiederum beeinflusst.

Drittens wird mittels der Interviews auch die Entwicklung der einzelnen Organisationen selbst erfasst – im Fokus steht dabei die Organisationssicht, d.h., Fragen nach Organisationsstruktur, Mitgliederzahlen und auch möglicher Konflikte. Ziel des Teilprojektes ist es, die Formen und Stärke von brückenbildendem und verbindendem Sozialkapital einzuschätzen, um zu überprüfen, inwiefern die Entstehung neuer Netzwerkverbindungen die Teilhabechancen von Gruppen und Individuen erhöht.

Teilprojekt II

Einbindung – Die Mikro-Ebene von Engagement (Koordination: IMIS)

Teilprojekt II analysiert die Formen und Dynamiken der Einbindung Einzelner in zivilgesellschaftliche Assoziationen seit 2015. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich Engagement institutionalisiert, ob es beendet wird oder sich in seinen Erscheinungsformen ändert und ob neues „bindendes“ Sozialkapital geschaffen wird.

Um diesen Fragen nach den Folgen von Engagement und Aktivierung auf der individuellen Ebene empirisch nachzugehen, werden in jeder Stadt Interviews mit Engagierten aus den in Teilprojekt I identifizierten zentralsten Organisationen geführt.

Erstens werden über problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) individuelle Engagementbiographien erhoben und analysiert. Damit können Beweggründe der (Nicht-)Verstetigung des Engagements und seine spezifische Ausprägung festgehalten werden. Ergänzt werden sollen diese durch strukturierte Fragen nach den sozialen Beziehungen der Engagierten einerseits innerhalb einer Organisation/Gruppe, um so die Stärke des „bindenden“ Sozialkapitals zu erfassen; und andererseits durch Fragen nach transnationalen Bezügen (persönlich, digital, mental), um zu analysieren, inwieweit auf lokaler und individueller Ebene transnationale Bezugsrahmen relevant werden. Um eine möglichst breite Varianz zu erzielen und Binnendifferenzierungen erfassen zu können (z.B. geschlechtsspezifische Engagementprofile), umfasst das Sample möglichst Interviewpartner*innen unterschiedlicher Herkunft, Geschlechts, Alters, Bildungsstands und sozialen Status.

Zweitens wird die individuelle Einbindung aus der Perspektive der Organisationen bzw. Initiativen erhoben. Wir fragen Organisations- bzw. Projektleiter*innen nach der Entwicklung von Formen und Strukturen der Einbindung (Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten) im Zeitverlauf und internen Umbrüchen.

Ziel von Teilprojekt II ist es, typische Muster von Engagementverläufen und ihrer gruppen- bzw. organisationsspezifischen Einbindung herauszuarbeiten. Dabei sollen auch Charakteristika und Entwicklungsdynamiken von bindendem Sozialkapital abgebildet und diese nach soziodemografischen Faktoren, individuellen Biographien und ihrem Organisationskontext verglichen werden.

Teilprojekt III

Anbindung – Die Makro-Ebene von Engagement (Koordination: DeZIM)

Teilprojekt III widmet sich der Anbindung von Engagement an gesamtgesellschaftliche Prozesse, konkret: den positiven oder negativen Auswirkungen der Aktivierung auf die Teilhabechancen von Bürger*innen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Herstellung von Gemeinwohl.

Dies soll in drei Schritten erfolgen:

  • Durch die Analyse gesellschaftlichen Zusammenhalts in Form von lokalen Beziehungs- und Netzwerkstrukturen
  • Der Wirkung von Engagement auf Teilhabechancen in den Bereichen Bildung, Arbeit und öffentliche Verwaltung
  • Der Politisierung der Zivilgesellschaft durch die Untersuchung des Verhältnisses von Engagement, Gemeinwohlorientierung und Protest

Aus der Analyse der Netzwerke aus den Teilprojekten I und II ergeben sich erstens Anhaltspunkte für den Zustand gesellschaftlichen Zusammenhalts auf lokaler Ebene, da wir nicht nur die Struktur der zivilgesellschaftlichen Beziehungen untereinander und zum Staat themenspezifisch abbilden können, sondern auch die Qualität der Beziehungen. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass möglichst breite, wenig zentrierte Netzwerkstrukturen mit einer Vielfalt von Beziehungen untereinander sich förderlich auf den lokalen Zusammenhalt und die Solidarität auswirken. Dichte Subnetzwerke sind dem eher abträglich, insbesondere, wenn sie ein exklusives Gemeinwohlverständnis und weitere Polarisierung fördern.

Zweitens werden wir für die Analyse der Wirkungen von Engagement auf Teilhabechancen einen Perspektivwechsel vornehmen und Vertreter*innen der gesellschaftlichen Teilbereiche Bildung, Arbeit und Verwaltung (z.B. Schulen, Unternehmen, Lokalpolitik) nach der Rolle des Aktivierungsschubs für soziale Teilhabe befragen.

Drittens untersucht das Teilprojekt III das Verhältnis von Engagement, Gemeinwohl und Protest. Protest kann konstitutiv für Gemeinwohl sein, wenn Bürger*innen ihre Vorstellungen von Gemeinwohl öffentlich artikulieren und diese Mobilisierung wiederum Auswirkungen auf Inhalte und Form von Lokalpolitik hat. Protest kann aber auch zum Ausdruck bringen, dass vertikale Bindungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat brüchig sind und Konflikte nicht anderweitig absorbiert werden kann. Wir gehen in allen 6 Mittelstädten diesen Dynamiken nach und erheben lokale Konfliktdynamiken anhand einer Protestereignisanalyse.

Projektinformationen

Projektförderung

Das Projekt aktivzivil wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Förderlinie „Teilhabe und Gemeinwohl“ gefördert.

Gefördert vom:

Projektlaufzeit

1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2022

Projektkoordination

Das Projekt aktivzivil wird vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung koordiniert.
Ansprechpartnerin ist Prof. Dr. Sabrina Zajak, zajak[at]dezim-institut.de.